Das Künstler*innenhaus Gessnerallee: Vier Jahre zwischen Auf- und Ausbruch, Stillstand und Wandel
Die Forderung war klar, das Versprechen gross: Institutionen müssen sich wandeln. Rassismus, sexualisierte Gewalt und Prekarisierung sind konventionalisiert in einem Theatersystem, das so Ausschlüsse, Ausgrenzung und strukturelle Diskriminierung (re)produziert. Was bereits seit den 2000er Jahren im Feuilleton und auf den Kritikerportalen unter dem Stichwort ‹Stadttheaterdebatte› und als ‹Krise in den Künsten› verhandelt wurde, gilt genauso für die freie Szene, die sich spätestens seit den 1980er Jahren zu institutionalisieren begann.
Das Künstler:innenhaus Gessnerallee: Vier Jahre zwischen Auf- und Ausbruch, Stillstand und Wandel
Die Forderung war klar, das Versprechen gross: Institutionen müssen sich wandeln. Rassismus, sexualisierte Gewalt und Prekarisierung sind konventionalisiert in einem Theatersystem, das so Ausschlüsse, Ausgrenzung und strukturelle Diskriminierung (re)produziert. Was bereits seit den 2000er Jahren im Feuilleton und auf den Kritikerportalen unter dem Stichwort ‹Stadttheaterdebatte› und als ‹Krise in den Künsten› verhandelt wurde, gilt genauso für die freie Szene, die sich spätestens seit den 1980er Jahren zu institutionalisieren begann. Das Versprechen des Wandels ist eng an das Konzept der Öffnung und der Schaffung von Zugängen geknüpft: Doch was wird unter dem Begriff der Öffnung verstanden? Wer hat Zugang zu den Institutionen, sei es als Künstler:in, Mitarbeiter:in oder als Zuschauer:in? Welche Massnahmen und Förderung braucht es, um eine Institution zu öffnen? Und zu guter Letzt: Wie wird diese Öffnung gemessen? Für den Kulturwissenschaftler Mark Terkessidis ist klar: Institutionelle Öffnung kann nur durch einen Prozess des Ver- und Erlernens geschehen. Das Verlernen (Unlearning) ist gemäss der Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak die Voraussetzung postkolonialer Pädagogik, da es die Möglichkeit aufweist, institutionalisierte Formen des Schweigens aufzuzeigen und zu brechen. Das heisst genau dann, wenn Institutionen bereit sind, ihre eigenen Strukturen zu befragen, weisen sie auf Missstände hin, die Ausschlüsse produzieren und können diese anschliessend durch kollaborative Praktiken verändern. Genau an diesem Punkt setzte die 2020 berufene Dreierleitung der Gessnerallee, bestehend aus Michelle Akanji, Rabea Grand und Juliane Hahn, an.
Es war eine Aufbruchstimmung: Nicht nur wurden drei Frauen in die Leitung berufen und damit, neben dem Theater Neumarkt und dem Schauspielhaus, in kurzer Zeit die dritte Kollektivleitung an einem Zürcher Theater eingesetzt. Die Leitung trat auch mit einem Konzept an, die Strukturen und Ästhetiken an der Gessnerallee machtkritisch zu befragen. Dafür experimentierte sie entlang des holokratischen Ansatzes des Organisationsentwicklers Frederic Laloux mit Entscheidungsprozessen und der Aufteilung von Verantwortung, teilte mit einer sechsköpfigen Programmgruppe die Spielzeit in fünf Zyklen auf, stärkte mit Hauskünstler:innen Kontinuitäten im dynamischen System der freien Künste und schuf Begegnungs- und Diskursräume. Durch die Arbeit am und die Verpflichtung zum Fairspec-Kodex, verankerte sie Werte der Zusammenarbeit zwischen Institutionen und Künstler:innen, die sich auch im neuen vom Vorstand erarbeiteten Leitbild (seit Dezember 2022) widerspiegeln. Darin versteht sich die Gessnerallee als Labor, als Ort des Experimentierens – ein institutionelles Selbstverständnis, das historisch bereits seit den Anfängen am Haus verankert ist und von der aktuellen Leitung konsequent fortgeführt und weiterentwickelt wurde.
Mit der Covid-19 Pandemie kam es auch im Theater zum Stillstand: So waren die ersten zwei Jahren stark von den Massnahmen und den Einschränkungen des Betriebs geprägt. Das Team musste sich häufig über Zoom zusammenfinden und konnte sich nicht wie üblich im Theater begegnen. Das System des internationalen Koproduzierens brach zusammen, professionelle Netzwerke mussten neu gedacht und Premieren wieder und wieder verschoben werden. Die prekären Arbeitsbedingungen von freischaffenden Künstler:innen wurden einmal mehr, und vielleicht erstmals in einem breiteren medialen Diskurs, sicht- und erfahrbar. Auf die Krise der Pandemie folgte dann die Krise der Leitung: Rabea Grand trat bereits im Laufe des ersten Jahres aus dem Leitungskollektiv aus. Das Labor Gessnerallee befand sich, ganz im Sinne von Terkessidis und Spivak, in einem Prozess des Ver-Lernens, des Anpassens, einem konstanten Balanceakt zwischen Kontinuität, dem Anspruch der künstlerischen Strategie und dem Versprechen der Veränderung.
Der Wandel richtete sich in der Gessnerallee sowohl nach innen (die Arbeit an eigenen Strukturen) als auch nach aussen (Programm und Kommunikationsstrategie). Denn die Frage, wer als Künstler:in, Mitarbeiter:in oder Zuschauer:in Zugang zur Institution hat, kann nur dann beantwortet werden, wenn die eigenen Vorannahmen zu Theater, Tanz und Performance kritisch überprüft werden, wenn entlang von künstlerischen Praktiken auch strukturelle Fragen gestellt und entsprechende Massnahmen ergriffen werden. Das Programm war vielfältig und setzte sich aus lokalen Koproduktionen wie jenen von Criptonite, kuratierten Festivals wie El Caldo Turbio von Catalina Insignares oder auch diskursiven Veranstaltungen zu kultur- und gesellschaftspolitischen Fragen wie der Talkshowreihe Die neue Unsicherheit von Fatima Moumouni zusammen. Die Verschränkung von Arbeitsweisen und Ästhetiken sowie deren Einfluss auf das institutionelle Selbstverständnis stand bei vielen künstlerischen Positionen im Vordergrund.
Nach vier Jahren ist es nun Zeit für den Ausbruch aus der Institution. Im Rahmen des Drop Out-Festivals verabschiedet sich die aktuelle Gessnerallee-Leitung von der Institution und macht Platz für eine neue Zeit am Haus. Als Zuschauer:innen erleben wir Arbeiten von Ariel Efraim Ashbel and friends, Catol Teixeira, Lhaga Koondhor/James Massiah, lo.me, Lukas Sander, SERAFINE1369, Simone Truong und der Young Boy Dancing Group an verschiedenen Orten der Stadt Zürich. Der Ausbruch verspricht gleichzeitig ein Weitertragen der Ansätze und eine Neugier auf das, was noch kommt. Ganz im Sinne des Ver-Lernens zeigt sich an der Gessnerallee, dass in künstlerischen und institutionellen Kontexten das Erproben und Scheitern, genauso wie auch das neu-Ansetzen und wieder Erproben Teil eines dynamischen Aushandlungsprozesses zu Fragen der Öffnung, des Wandels und letztlich der Veränderung von Institutionen gehört.
Text: Alexandra Portmann
Punktuelle Literaturhinweise:
Eggers, Maureen Maisha, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt (Hg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster 2005.
Steyerl, Hito und Encarnación Gutiérrez Rodríguez: Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik. Münster 2012.
Liepsch, Elisa und Julian Warner (Hg.): Allianzen. Kritische Praxis an weißen Institutionen. Bielefeld 2018.
Purtschert, Patricia, Barbara Lüthi und Francesca Falk (Hg.). Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Bielefeld 2012.
Pilić, Ivana und Anne Wiederhold: Kunstpraxis in der Migrationsgesellschaft. Transkulturelle Handlungsstrategien am Beispiel der Brunnenpassage Wien. Bielefeld 2015.
Sharifi, Azadeh und Lisa Skwirblies (Hg.): Theaterwissenschaft postkolonial/dekolonial. Eine kritische Bestandsaufnahme. Bielefeld 2022.
Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak? Reflections on the History of an Idea. New York 2010.
Terkessidis, Mark: Interkultur. Frankfurt/Main 2010.
Terkessidis, Mark: Kollaboration. Frankfurt/Main 2015.
Laloux, Frederic: Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit, München 2015.